„Lass die Finger weg und benutze deinen Kopf!“ Nicht wenige Kinder haben diesen Satz im Matheunterricht oder zuhause bei den Hausaufgaben zu hören bekommen. Vielleicht fragen auch Sie sich, wieso Ihr Kind immerzu seine Finger benutzt, um einfache Rechenaufgaben zu lösen. Wir können Sie beruhigen: Die Finger zum Rechnen zu benutzen, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt und keineswegs ein Zeichen dafür, dass Ihr Kind schlecht in Mathe ist!
Kognitive Entwicklung
Betrachten wir einmal die von Jean Piaget aufgestellte kognitive Entwicklungstheorie, stellen wir fest, dass das Rechnen mit den Fingern typischerweise in der zweiten Entwicklungsstufe auftritt. Kinder sind hier noch nicht in der Lage, größere Abstraktionsleistungen zu vollziehen. Für den Matheunterricht und den Umgang mit Zahlen bedeutet das, dass sie ganz konkrete Veranschaulichungen benötigen, um entsprechende Verhältnisse verstehen zu können. An der Abstraktion, also dem Weggehen von den Fingern hin zu den reinen Zahlen, scheitern sie hier entwicklungsbedingt noch. Das ist keine Schwäche, sondern entwicklungspsychologisch erwartbar. Mehr noch: Diese Stufe muss durchlaufen werden, um später in der Lage zu sein, abstrakt zu denken. Das Rechnen mit den Fingern sollte also keinesfalls unterbunden werden.
Obwohl Piaget Altersstufen angibt, durchlaufen nicht alle Kinder die Entwicklungsstufen im gleichen Tempo. Zahlreiche Beobachtungen haben gezeigt, dass das Tempo individuell sehr verschieden sein kann. Das bedeutet, dass nicht ein spezifisches Alter angegeben werden kann, ab dem die Kinder keine Finger mehr zur Hilfe nehmen müssen.
Fingerzählen als Grundlage mathematischer Kompetenzen?
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der klar für das Rechnen mit den Fingern spricht. In jüngerer Vergangenheit konnte gezeigt werden, dass unser Zahlenverständnis neuropsychologisch auch im Erwachsenenalter nicht rein abstrakt ist. Stattdessen deuten mehrere Studien darauf hin, dass es auf den Erfahrungen des Fingerzählens basiert: Auch bei komplexen mathematischen Operationen werden, lange nachdem wir aufgehört haben, unsere Finger zum Zählen zu benutzen, diejenigen Hirnareale aktiv, die für die Fingerbewegungen zuständig sind. Unsere mathematischen Fähigkeiten als Erwachsene scheinen damit wesentlich stärker als bisher vermutet auf unsere Erfahrungen mit dem Fingerrechnen zurückzugehen.
Fingerrechnen nicht verbieten
Für die Praxis als Eltern bedeutet das, dass Kindern das Rechnen mit den Fingern auf keinen Fall verboten werden sollte. Sehen Sie darin vielmehr einen wichtigen Schritt für jede weitere Entwicklung mathematischer Kompetenzen. Mehr noch: Wir sollten möglicherweise sogar verstärkt darauf setzen, Kindern das Zählen und Rechnen mit Hilfe ihrer Finger zu veranschaulichen – daraus scheinen sich nachhaltige Lerneffekte zu ergeben.
Quellen:
https://intrapsychisch.de/piaget-stufenmodell-der-kognitiven-entwicklung/
https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/406023305?context=projekt&task=showDetail&id=406023305&